Zitiervorschlag: Steffen, LRZ 2023, Rn. 314, [●], www.lrz.legal/2023Rn314.
Permanente Kurz-URL: LRZ.legal/2023Rn314
Der Beitrag analysiert den Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 13.9.2022, in dem das Gericht eine Pflicht zur umfassenden Arbeitszeiterfassung aus dem geltenden nationalen Recht herleitet. Der Beschluss ist vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache CCOO zu sehen, wonach die Mitgliedstaaten Arbeitgeber zur Einführung eines „objektiven, verlässlichen und zugänglichen“ Systems zu verpflichten haben, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Er gibt zudem einen Ausblick auf eine mögliche künftige gesetzliche Regelung der Arbeitszeiterfassung, wie sie sich nach Veröffentlichung des ersten Referentenentwurfs zur Arbeitszeiterfassung am 18.04.2023 abzeichnet.
In der Entscheidung CCOO1 forderte der EuGH die Mitgliedsstaaten in Auslegung der Arbeitszeitrichtlinie2 dazu auf, Arbeitgeber zur Einführung eines „objektiven, verlässlichen und zugänglichen“ Systems zu verpflichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.
Die Reaktionen in der Literatur auf das Urteil fielen unterschiedlich aus. So wurde dem EuGH teilweise ein Festhalten an dem „antiquierten Regelungsmodell der Arbeitszeit-Richtlinie“3 vorgehalten. Weitgehend bestand jedoch Einigkeit darüber, dass das Europarecht auch auf nationaler Ebene dazu verpflichte, die Arbeitszeit zu erfassen, wenngleich hierzu vielfach ein Tätigwerden des Gesetzgebers als erforderlich erachtet wurde.4
Nicht so das BAG: Nachdem in einer frühen Entscheidung vom 4.5.20225 der „Paukenschlag“6 zunächst ausgeblieben war, stellte es in der hier zu besprechenden Entscheidung vom 13.9.2022 fest, dass Arbeitgeber bereits de lege lata zur Arbeitszeiterfassung gemäß unionsrechtskonformer Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet seien.7
In dem der Entscheidung zugrundliegenden Verfahren stritten die Beteiligten dem Grunde nach über die Frage, ob dem Betriebsrat ein Initiativrecht zur Einführung eines Systems der elektronischen Arbeitszeiterfassung nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG zusteht.
Das erstinstanzlich mit der Sache befasste Arbeitsgericht Minden hatte entschieden, dass sich aus der als Abwehrrecht des Arbeitnehmers ausgestalteten Norm kein Initiativrecht des Betriebsrats ergebe und sich daran auch angesichts der europäischen Rechtsprechung nichts geändert habe.8 Demgegenüber war der nachfolgende Beschluss des LAG Hamm insofern bemerkenswert, als dass er dem Betriebsrat entgegen der bislang geltenden BAG-Rechtsprechung dieses Initiativrecht bei der Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems gerade zusprach.9
Der erste Senat des Bundesarbeitsgerichts prüfte in dem Beschluss vom 13.9.2022 materiell nicht das Mitbestimmungs- bzw. Initiativrecht des Betriebsrats gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG. Stattdessen ließ er den Mitbestimmungstatbestand bereits an der Schwelle des § 87 Abs. 1 Eingangsshalbs. BetrVG scheitern. Dieser sieht unter anderem vor, dass das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats greift, soweit eine gesetzliche Regelung nicht besteht. Eine solche gesetzliche Regelung bestehe aber in Gestalt des hier einschlägigen § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG. Die arbeitsschutzrechtliche Generalklausel („Grundpflichten des Arbeitgebers“) verpflichte Arbeitgeber bereits nach geltendem Recht zur Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems. Insoweit bestünden folglich keine Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats.
Bevor das BAG zur Herleitung aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG kommt, lehnt es mit ausführlicher Begründung die Anwendbarkeit weiterer gesetzlicher Regelungen ab. Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union10 schreibt unter anderem eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und tägliche sowie wöchentliche Ruhezeiten vor; § 16 Abs. 2 S. 1 ArbZG verpflichtet den Arbeitgeber zur Erfassung der über die werktägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeitszeit, und § 17 Abs. 4 ArbZG ermächtigt die zuständige Aufsichtsbehörde, von Arbeitgebern die zur Durchführung des ArbZG erforderlichen Auskünfte zu verlangen. Im Ergebnis lässt sich nach Ansicht des BAG jedoch aus keiner dieser Vorschriften die Pflicht zur Erfassung sämtlicher Arbeitszeiten ableiten.
Den denkbar weiten und von unbestimmten Rechtsbegriffen geprägten § 3 ArbSchG, genauer dessen Abs. 2 Nr. 1, hat das BAG jedoch für hinreichend konkret befunden, um eine solch spezifische Verpflichtung wie die Erfassung sämtlicher Arbeitszeiten unmittelbar zu begründen. Mit dem Erlass der Norm habe der Gesetzgeber ausdrücklich die Arbeitsschutz-Rahmenrichtlinie 89/319/EWG umsetzen wollen,11 auf die der EuGH die europarechtliche Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung maßgeblich stützte. Eine unionsrechtskonforme Auslegung widerspreche auch nicht gesetzessystematischen Erwägungen des nationalen Rechts. Insbesondere zeige § 5 Abs. 3 Nr. 4 ArbSchG, dass die Arbeitszeit als Gefährdungsfaktor zum Regelungsinhalt auch des Arbeitsschutzgesetzes gehöre. Auf unionsrechtlicher Ebene fänden Richtlinien zum Arbeitsschutz und zur Arbeitszeit ebenfalls nebeneinander Anwendung; sie stünden in keinem Ausschließlichkeitsverhältnis.
Die Pflicht zur Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems beziehe sich dabei ausweislich der Regelung des Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG auf alle Arbeitnehmer i.S.d. § 5 Abs. 1 S. 1 BetrVG. Ausnahmen von dieser Verpflichtung seien hier nicht gegeben, insbesondere seien die §§ 18 bis 21 des ArbZG – die eine Bereichsausnahme u.a. für leitende Angestellte enthalten – nicht einschlägig. Die Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit ergebe sich eben nicht aus dem ArbZG, sondern dem daneben auf Arbeitszeitfragen anwendbaren ArbSchG.
Hinsichtlich der Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung stehe dem Betriebsrat dem Grunde nach ein Mitbestimmungs- und Initiativrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG zu. Ein entsprechender Antrag des Betriebsrats dürfe sich jedoch nicht auf eine spezielle Form des Arbeitszeiterfassungssystems (hier: elektronische Zeiterfassung) beschränken, da ansonsten der dem Arbeitgeber durch das Gesetz eröffnete Gestaltungsspielraum in unzulässiger Weise eingeschränkt werde.
Nach langer Untätigkeit des Gesetzgebers im Nachgang des Urteils des EuGH aus dem Jahr 2019 – trotz anderslautender Bekundungen im Koalitionsvertrag12 – besteht bereits aufgrund des Beschlusses des BAG konkreter Handlungsbedarf für Arbeitgeber.
Unmittelbar nach Fertigstellung dieses Artikels wurde vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales ein Referentenentwurf für die Arbeitszeiterfassung veröffentlicht. Mit diesem wurde nun endlich auf die Rechtsprechung des EuGH und des BAG reagiert, deren Vorgaben vollumfänglich eingearbeitet worden sind. Der Referentenentwurf sieht vor, § 16 des Arbeitszeitgesetzes um mehrere Absätze zu ergänzen. Zukünftig soll bezüglich der Arbeitszeiterfassung Folgendes gelten:
vereinbart werden.
Nach wie vor nicht eindeutig geklärt ist die Frage, ob die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung auch leitende Angestellte nach § 5 Abs. 3 BetrVG erfasst. Das BAG bezieht die Verpflichtung auf „alle in ihrem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer i.S.d. § 5 I 1 BetrVG“13. Nach systematischer Auslegung erfasst § 5 Abs. 1 S. 1 BetrVG alle Arbeitnehmer, wobei Arbeiter, Angestellte und Auszubildende ausdrücklich aufgeführt sind. Abs. 3 der Vorschrift bestimmt, dass das Betriebsverfassungsgesetz auf leitende Angestellte nur in denen im Gesetz genannten Ausnahmefällen Anwendung findet. Indem das BAG § 5 Abs 1. S. 1 BetrVG und nicht den gesamten § 5 BetrVG (einschließlich der Bereichsausnahme für leitende Angestellte in Abs. 3) zitiert, könnte eine Erstreckung auch auf leitende Angestellte intendiert sein.
Auf Basis der Argumentationslinie des BAG steht diesem Ergebnis auch § 18 Abs. 1 Nr. 1 ArbZG nicht entgegen. Die Regelung sieht vor, dass die Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes nicht auf leitende Angestellte anzuwenden sind14 und steht insofern im Einklang mit Art. 17 Abs. 1 a) der Richtlinie 2003/88/EG. Vor dem Hintergrund der geringeren Schutzbedürftigkeit leitender Angestellter wäre § 18 Abs. 1 Nr. 1 ArbZG ein Argument, um diese Gruppe von der Arbeitszeiterfassungspflicht auszunehmen.
Allerdings leitet das BAG die Verpflichtung wie beschrieben gerade nicht aus dem ArbZG, sondern dem daneben anwendbaren ArbSchG ab. Gemäß § 1 Abs. 1 S. 1 ArbSchG erstreckt sich der persönliche Anwendungsbereich des Gesetzes auf Beschäftigte, wobei die Legaldefinition dieses Begriffes in § 2 Abs. 2 ArbSchG leitende Angestellte nicht ausschließt. Dies wäre auch nicht angezeigt, da es im Arbeitsschutz – anders als im Betriebsverfassungsrecht – nicht auf die Nähe leitender Angestellter zum „Arbeitgeberlager“ ankommt. Zudem hält das BAG in der Entscheidung die §§ 18 bis 21 ArbZG ausdrücklich für „nicht einschlägig“.15
Der Gesetzgeber hat im Rahmen des veröffentlichten Referentenentwurfs vom 18.04.2023 seinen Handlungsspielraum nicht genutzt und die streitigen Fragen bezüglich leitender Angestellter bleiben daher leider weiter offen.
Es bleibt abzuwarten, ob und inwiefern Unklarheiten im aktuellen Referentenentwurf im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens noch beseitigt werden. Ein großer Wurf ist dem Bundesarbeitsministerium jedenfalls nicht gelungen. Es kann damit gerechnet werden, dass die Änderungen des Arbeitszeitgesetzes bereits im dritten Quartal 2023 in Kraft treten werden.
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