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Zitiervorschlag: Quarch, LR 2020, S. 224, [●], www.lrz.legal/2020S224

 
Dr. Benedikt M. Quarch, M.A.
Co-Founder, Geschäftsführer | RightNow Group

„Was wir für Realität halten, besteht inzwischen zunehmend aus Instrumenten der digitalen Welt.“, schreibt Richard David Precht in seinem neuen Buch zur künstlichen Intelligenz.1 Nur in der Justiz scheint das in aller Regel (noch) nicht der Fall zu sein. Doch auch hier kommt inzwischen – gewiss in Anbetracht der Corona-Pandemie – Bewegung rein. Es ist also allemal an der Zeit zu fragen: Gerichtsverfahren, quo vaditis? Dieser Beitrag kann diese Frage freilich nicht allumfassend beantworten, sondern nur einige aktuelle Gedankenlinien skizzieren.

 

 

 

 

1. De lege lata in Deutschland

Zunächst stellt sich die Frage, inwieweit rechtliche Verfahren in Deutschland schon heute in die digitale Welt gewandert sind. Die derzeitige Rechtslage lässt bereits eine relativ großzügige digitale Durchführung von Gerichtsverhandlungen zu: § 128a ZPO, zu dem ja schon viel geschrieben worden ist, ist in der derzeitigen Form seit dem 1.11.2013 in Kraft.2 Diese Vorschrift ermöglicht eine zeitgleiche Bild- und Tonübertragung von Parteien, Bevollmächtigten und Beiständen von einem anderen Ort in das Gericht. Das Gericht hat dies auf Antrag oder von Amts wegen zu gestatten. Eine Einschränkung erfährt die Situation durch eine verpflichtende Anwesenheit des Gerichts im Sitzungssaal. Ebenfalls ist eine Aufzeichnung nach wie vor nicht zulässig.3

 

2. De lege ferenda in Deutschland

Sieben Jahre sind seit dieser Änderung der ZPO mit dem Ziel von mehr Digitalisierung vergangen. Die Krise rund um Covid-19 hat nun einen weiteren Schritt ausgelöst, wenn auch mit einer Beschränkung für Verfahren nach dem Arbeitsgerichtsgesetz und dem Sozialgerichtsgesetz. So hatte ein Referentenentwurf der Bundesregierung vom 09.04.20204 u.a. folgende Änderungen mit einer Befristung bis 31.12.2020 vorgeschlagen: Ehrenamtliche Richter können von einem anderen Ort als dem Gericht eine Verhandlung im Wege der zeitglichen Übertragung von Bild und Ton führen; das Gericht kann allen Beteiligen anordnen, an der Verhandlung ausschließlich per Bild- und Tonübertragung teilzunehmen und die Öffentlichkeit kann von der Verhandlung ausgeschlossen werden.

Nach heftiger Kritik von Arbeitnehmerverbänden5, aber auch des Bundes Deutscher Sozialrichter6 oder der BRAK7 wurden die jeweiligen Absätze im finalen Gesetz entschärft8: Ehrenamtlichen Richtern wurde es nun lediglich erlaubt von außerhalb des Gerichtsgebäudes zu entscheiden, wenn Gegenteiliges andernfalls unzumutbar ist. Den Beteiligten wird eine Fernteilnahme zudem nicht mehr angeordnet, sondern vom Gericht gestattet. Der Ausschluss der Öffentlichkeit und weitere Verfahrenserleichterungen entfielen gänzlich. Dennoch ermöglicht das Gesetz erstmals in der deutschen Rechtslandschaft Gerichtsverhandlungen gänzlich mittels Ton- und Videoübertragung durchzuführen und erschafft somit einen virtuellen Gerichtssaal oder „online court“.

Gesetzlich möglich wurde dies durch Änderungen der § 114 ArbGG und § 211 SGG, die am 29.5.2020 in Kraft getreten sind9. Ein Wermutstropfen in diesem progressivem Schritt besteht jedoch in dem Außerkrafttreten der Regelungen ab 31.12.2020.10 Der Schritt in Richtung moderner digitaler Jurisdiktion ist daher bislang temporärer und partieller Natur, birgt jedoch weiteres Potenzial zu Veränderungen. Dies würde eine weitgehende Novellierung der ZPO voraussetzen und damit umfassender legislativer Vorarbeit bedürfen. Problematisch ist dabei auch die Ausstattungssituation in Gerichten, da diese nicht im Ansatz ausreicht, um einem modernen Verständnis einer Gerichtsbarkeit zu entsprechen. Die momentane Probezeit kann dazu genutzt werden, um auf budgetäre Probleme hinzuweisen und so Änderungen herbeizuführen11 - wie es teilweise nun auch geschehen ist.

 

3. Verfassungsrechtliche Fragen

Das Gerichtsverfahren ist ein Grundpfeiler des Rechtsstaates, das dem Bürger ermöglicht die ihm zugeschriebenen Rechte prüfen und verteidigen zu lassen. Dementsprechend strikt sind verfahrensrechtliche Vorschriften, welche durch solch grundlegende Veränderungen berührt werden. Insbesondere die ursprünglich im Referentenentwurf normierte Möglichkeit des Ausschlusses der Öffentlichkeit hätte in einem klaren Konflikt mit dem im Verfassungsrang stehenden Art. 6 EMRK, Art. 20 Abs. 3 GG gestanden. Dieser schreibt eine öffentliche Durchführung und Urteilsverkündung von Verfahren vor, die nur in bestimmten Situationen eingeschränkt werden kann. Erneut ermöglicht hier die Pandemie unter dem Interesse der „öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ eine solche Einschränkung ausdrücklich aus dem Gesetz. Wie lange aber diese aufrechterhalten werden kann, bleibt abzuwarten. Zunächst ist der Gesetzgeber dem Referentenentwurf nicht vollständig gefolgt, sondern hat den entsprechenden Absatz nicht erlassen, womit sich dieses Problem derzeit nicht stellt. Jedoch ist davon auszugehen, dass ein solcher Vorschlag sich in Zukunft wiederholt, wodurch eine potenzielle Einschränkung wieder zu rechtfertigen sein wird.


4. Internationale Anwendungsbeispiele digitaler Gerichte

Eine echte Möglichkeit für Verhandlungen mittels Fernkommunikation wurde im Übrigen schon durch die Verordnung (EG) Nr. 861/2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen (EuBagatellVO) im Jahr 2007 eingeführt. Seit 1.1.2009 ist darauf gestützt ein fakultatives Verfahren möglich, welches zu den klassischen innerstaatlichen Verfahren hinzutritt. Anwendbar ist die Verordnung auf grenzüberschreitende Rechtsstreitigkeiten für Forderungen bis zu einem Streitwert von EUR 5.000. Die Komponente des „Online-Courts“ tritt hinzu, sofern eine mündliche Verhandlung durchgeführt wird. Bei Anordnung einer solchen kann die jeweilige geladene Partei verlangen, die Vernehmung per Onlinekommunikation durchzuführen. Trotz der modernen Ausrichtung des Verfahrens genießt es eher geringes Interesse mit rund ein paar hundert Fällen pro Jahr, was der geringen Bekanntheit sowie dem engen Anwendungskreis geschuldet sein dürfte. Allerdings stellt es eine generelle Möglichkeit dar, Verhandlungen vollständig auf digitalem Wege durchzuführen und das bereits seit über zehn Jahren.

Eine weitere Anwendung von online-basierten Verfahren findet sich im Rahmen des ADGM „Abu Dhabi Global Market“, ein von der Regierung Abu Dhabis etabliertes internationales Finanzzentrum12, das aber ebenso einen Streitbeilegungskörper mit dem Namen „Abu Dhabi Global Market Courts“ beinhaltet. Diese Gerichtsbarkeit ist ein vollwertiges Rechtsprechungsorgan der Vereinigten Arabischen Emirate mit mehreren Instanzen, das zivilrechtliche Angelegenheiten auf Basis des „English Common Law“ löst. Die Novation besteht in einer Möglichkeit dieses Gericht in einem vollständig online-basierten Weg anzurufen13. Sofern sich ADGM Courts für zuständig erachtet, wird ein Rechtsstreit auf diesem Weg von der Initiierung bis zum Spruch rein online beigelegt. Klägern, die diesen Weg für ausreichend erachten, spart dies Zeit und Kosten. Zusätzlich ist dennoch immer ein Verfahren nach klassischen Regeln möglich.


5. Prinzip unpersönlicher Vernehmungen

Gerichtsverfahren, die ohne mündliche Verhandlungen stattfinden, sind nicht neu. Je nach Rechtslage werden richterliche Entscheide bereits heute im schriftlichen Verfahren entschieden und verzichten auf eine mündliche Verhandlung. Als Ergänzung werden in vielen Rechtsordnungen heute bereits lediglich telefonische Konferenzen einberufen, um einzelne Teile des Verfahrens klären zu können. Diesbezüglich ist es also nicht neu, Urteile auf anderem Wege als dem persönlichen zu sprechen. In einem wichtigen Aspekt ist die moderne Technologie allerdings anders konzipiert. Diese versteht sich nicht als bloße Effizienzmaßnahme für einfach gelagerte oder genau passende Verfahren, sondern muss sich mit der Frage auseinandersetzen ob sie althergebrachte, gefestigte, rechtliche Prinzipien und ein online-basiertes digitales Rechtssystem vereinen kann. Kann die „Online-Rechtsprechung“ mehr Service als die bisherige bieten?

Die Idee der neuen Rechtsprechung ist ein zielorientierter Ansatz: Die Technologie soll das System anhand der Bedürfnisse und Wünsche von Gerichtsnutzern verbessern. In England und Wales wird so ein System bereits unter dem Namen „continuous online hearings“ getestet. Dabei ändert sich der Ablauf von unterschiedlichen voneinander abgetrennten Abschnitten hin zu einem einzigen digitalen Verfahren, das sich über einen gewissen Zeitverlauf erstreckt. Diese Vorgehensweise orientiert sich stark am „common law-System“, aber ein Einsatz ist ebenso in einfachen zivilrechtlichen Verfahren hierzulande möglich. Um auf das EU-Bagatellverfahren zurückzukommen: Dies stellt ebenso ein vollständig paralleles Verfahrenssystem dar, welches zu den üblichen bestehenden nationalen Verfahren hinzutritt und für geringwertige Streitfälle mit grenzüberschreitender Anknüpfung gewählt werden kann.

Um einem Kritikpunkt an Online-Verhandlungen vorzugreifen, sei anzumerken, dass diesevor allem zu Beginn nicht für komplizierte, jahrelange Verhandlungen eingesetzt werden, sondern für die große Masse an kleinen einfach abzuhaltenden Verfahren – jene, die für die Gerichte aufgrund der Bürokratie und Verfahrensregeln überproportional viel Aufwand bedeuten. Hier ist es möglich, durch neue Verfahrensgestaltung effizienter zu arbeiten und mehr Service für Rechtsunterworfene zu bieten. Auf der anderen Seite werden große, medienwirksame Verfahren, welche die Rechtsprechung intensiv beschäftigen durch online-Mechanismen nur teilweise verändert, da insbesondere hier gründliche persönliche Auseinandersetzungen relevant sind. Problematisch bei der Einteilung in unterschiedliche Verfahren ist allerdings die Schwelle, nach der entschieden wird, wie ein solches zu führen ist. Hierbei kann nicht lediglich auf eine Wertgrenze abgestellt werden. Vielmehr müssen Faktoren wie die Komplexität des involvierten Rechtsgebiets, die Menge an Dokumenten, die Sensibilität des Rechtsstreits, die Relevanz der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen sowie die Effizienz der momentanen Prozessgestaltung miteinbezogen werden. Gerade zur Einführung von Online-Verfahren wird es wichtig sein, viel Zeit und Arbeit der Ausarbeitung dieser Schwelle zu widmen, um die Glaubhaftigkeit des Rechtssystems als Ganzes nicht zu gefährden.14


6. Fazit

Wie alle Mühlen des öffentlichen Dienstes arbeiten auch jene der Judikatur in der Regel langsam. Die Corona-Pandemie hat dieser jedoch einen Schwung gegeben, der länger andauern könnte. Die zeitliche und sachliche Einschränkung lässt sich durch ein Gesetz ebenso wieder aufheben. Wie Richard Susskind in seinem Buch "Online courts and the future of justice" beschreibt, sind Online-Verfahren schon viel näher an unserer Realität, als wir meinen. Die Möglichkeiten bei einer angemessenen Anwendung sind groß. Besonders für den einzelnen Bürger sind Verbesserungen vor allem bei Masseverfahren zur vereinfachten Rechtsdurchsetzung möglich. Was diese notwendige Angemessenheit Anwendung bedeutet, muss aber durch eine breite Diskussion ex ante festgelegt werden – und dann könnte vielleicht auch bald in der Justiz die Realität sehr digital sein.


 * Der Autor dankt Herrn Benedikt Charvat sehr herzlich für seine wertvolle Mitarbeit. Internetquellen wurden zuletzt am 10.8.2020 abgerufen.

1 Precht, Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens, 2020, S. 221.
2 Art. 2 BGBl. I Nr. 20, S. 935, verkündet am 30.4.2013.
3 Musielak/Voit/Stadler, ZPO § 128a Rn. 1.
4 Abzurufen unter https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Gesetze/Regierungsentwuerfe/reg-sozialschutzpaket-ii-2020-04-27.pdf?__blob=publicationFile&v=7; siehe auch https://www.fgvw.de/neues/referentenentwurf-fuer-covid-19-arbgg-sgg-anpassungsg.
5 Stellungnahme des DGB unter https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Gesetze/Stellungnahmen/sozialschutz-paket-2-dgb-2.pdf?__blob=publicationFile&v=3; weitere Stellungnahmen unter https://www.bmas.de/DE/Service/Gesetze/sozialschutz-paket2.html.
6 https://www.bunddeutschersozialrichter.de/positionen/stellungnahmen/stellungnahme/news/nr-2-20.
7 https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Gesetze/Stellungnahmen/sozialschutz-paket-2-brak.pdf?__blob=publicationFile&v=3.
8 Gesetz zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie, Art. 2 und Art. 4 des Gesetzes in BGBl. I Nr. 24, S. 1055, verkündet am 28. Mai 2020.
9 Art. 2 und Art. 4 des BGBl. I Nr. 24, S. 1055, verkündet am 28. Mai 2020.
10 Düwell, jurisPR-ArbR 21/2020 Anm. 1.
11 EFAR, Windau, 31.3.2020, „Neue Initiative: Arbeitsgerichte als „Online-Courts“?“, https://efarbeitsrecht.net/neue-initiative-arbeitsgerichte-als-online-courts/.
12 https://www.adgm.com/.
13 https://www.adgm.com/adgm-courts/digital-approach.
14 „Online Courts and the Future of Justice”, Richard Susskind, Oxford University Press, 2019, S. 143 ff.

 

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